Prof. Dr. Gerhard Trabert ist in unserer Rubrik Menschen im Gespräch zu hören. Das Interview gibt es nachfolgend auch zum nachlesen.
Menschen im Gespräch.
Volker Pietzsch: Ich spreche jetzt mit Professor Doktor Gerhard Trabert. Bundesweit ist er bekannt geworden, als der Arzt der Armen. In Mainz sind Sie geboren, dort auch aufgewachsen?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Absolut ja, ich bin ein Mainzer Bub, ja. Ich bin in einem Waisenhaus großgeworden, aber als privilegierter Bewohner. Denn mein Vater war dort zuerst Hausmeister, dann war er Erzieher und stellvertretender Heimleiter. Ich habe also sehr früh gesehen, was es bedeutet, keine Eltern zu haben. Als Kind doch arm zu sein und auf der anderen Seite, was es bedeutet, Eltern zu haben und reich zu sein. Ich war immer der, dem es besser ging, als allen anderen.
Volker Pietzsch: Und das ist ja schon, schon gleich die erste Geschichte, weil ein Kinderheim zu der Zeit als Sie das erlebt haben oder gesehen haben, das ist ja nicht das, ist ja nicht vergleichbar mit dem, was wir heute für Einrichtungen haben. Auch das war glaube ich ein Unterschied.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, natürlich. Ich bin ja schon ein bisschen älter, auch wenn ich das Alter nicht verraten. Aber zur damaligen Zeit gab es noch viele Waisenkinder, also Kinder die weder Vater noch Mutter hatten. Es gab auch natürlich Kinder, wo die Eltern sich getrennt haben und wo niemand die Versorgung übernehmen konnte. Und diese Kinder sind dann alle in das städtische Kinderheim, in das Waisenhaus gekommen, mit all ihren Traumata, die sie dann schon erlebt hatten. Mit, mit diesen Erlebnissen auch, der Ausgrenzung, der Trauer, ja, der Isolation und wurden dort versorgt, bekleidet, umsorgt. Und ich fand das immer sehr beeindruckend, wie mein Vater mit den Kindern umgegangen ist, das war, war sehr schön, sehr respektvoll.
Volker Pietzsch: Haben Sie das schon sofort wahrgenommen, oder erst reflektierend, zurückblickend darauf?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Doch, ich habe schon gemerkt, dass er sehr, klar, er hat sich immer für sie eingesetzt. Ich habe das so miterlebt als, als Schüler. Es waren ja in meiner Schulklasse auch immer Kinder, da aus dem Kinderheim, meine Spielkameraden. Und ich musste es häufig erleben, dass sie in der Schule eben nicht so wertschätzend und respektvoll behandelt wurden. Und, wenn es da halt zu Übergriffen kam, damals wurde noch geschlagen, auch mit dem Stock und allem, dann war mein Vater sehr schnell auf der Matte. Und hat sehr kontrovers mit den Lehrern das thematisiert und sich für seine Kinder, seine Schützlinge eingesetzt und das fand ich sehr beeindruckend.
Volker Pietzsch: Und das war zu der Zeit, habe ich auch schon mal hier in der Sendung gehabt, nicht normal. Weil da war wirklich Gewalt durchaus ein Thema. Auch gerade noch in der Schule, ja?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Also, wir haben in Deutschland 2000 die Prügelstrafe abgeschafft. Also, dass auch Eltern ihre Kinder nicht mehr züchtigen dürfen. Damals war das noch ein akzeptiertes Erziehungsmittel, was eine Katastrophe war. Also, ich-.
Volker Pietzsch: Na ja, das erklärt vielleicht manches, was wir gesellschaftlich so-.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja, absolut richtig. Also, das hat mir, also das waren da auch Sadisten unter den Lehrern. Das muss man auch mal ganz klar sagen. Die an den Haaren gezogen haben, am Ohr, mit dem Stock geschlagen haben. Also, das war alles schon, das war nicht normal und ich habe das selbst auch, also ich bin auch geschlagen worden in der Schule und wie entwürdigend das war-.
Volker Pietzsch: Ich sage Ihnen, ich habe in den 80er Jahren noch die letzten Ausläufer von solchen Lehrern miterlebt. Also, das war da. Also, zwar nicht gang und gebe, aber es gab immer noch welche, die so unterwegs waren, ja.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja, also ich weiß nicht, was das mit Pädagogik zu tun hat und das-. (I: Nichts.) Ne, absolut nichts. Das bekommen wir ja jetzt auch immer noch mit. Gerade was Heimerziehung angeht in der Vergangenheit, was sexuellen Missbrauch angeht, was auch Gewalt angeht. Wie hier mit sogenannten Schutzbefohlenen umgegangen wurde, ja. Das hat nichts mehr mit Pädagogik, Fürsorge zu tun. Das waren, ja, das war kriminell, das waren Sadisten, die Kinder gequält haben.
Volker Pietzsch: Wie war denn Ihre Schulzeit?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Wie war meine Schulzeit, das ist eine gute Frage. Also, einmal hat mich das schon in der Schulzeit sehr zum Denken, zum Nachdenken inspiriert, diese unterschiedliche, der unterschiedliche Umgang mit, mit meinen, ja, Heimkameraden aus dem Kinderheim in der Schule. Diese Benachteiligung, die ich schon da auch verspürt habe. Ich selbst war glaube ich ein sehr angepasster und braver Schüler. Ich habe nur im Musikunterricht mal eine Backpfeife bekommen, aber das werde ich nie vergessen, wie demütigend das war. Ich war ein Spätstarter. Ich war hier in der Grundschule, dann habe ich erstmal die Hauptschule durchlaufen, dann die mittlere Reife gemacht, dann-.
Volker Pietzsch: Richtig die harte Tour auch.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja. Ich weiß noch, in der Grundschule hatte der Lehrer gesagt, man sollte mich doch in das Gymnasium einschulen, aber ich, ich hatte in Deutsch glaube ich, eine fünf und in Mathe eine eins. Das war es genau. Sprachen waren nicht, da war ich wirklich nicht gut. Aber meine Eltern haben entschieden, ne, der bleibt auf der Hauptschule und ich muss sagen, ich bin Ihnen dankbar, ja. Alles andere wäre vielmehr Stress gewesen. So konnte ich mich wirklich immer mehr in diesem Leistungs- und Schulsystem zurechtfinden und bin dann diesen Weg, mittlere Reife, Fachoberschulreife, Hoch-, Fachhochschule und dann Universität. Das war so mein Werdegang. Das war nicht einfach, aber ich glaube, das war genau der richtige Weg für mich. Und ich bin da meinen Eltern dankbar, dass sie das so gemacht haben.
Volker Pietzsch: Aber bei so einer Schullaufbahn hätte das auch völlig anders ausgehen können. Man hätte nach der Hauptschule irgendein Handwerk erlernen können. Eine kaufmännische Ausbildung nach der Realschule oder dann, ja, logischerweise noch eine Banklaufbahn. Wäre ja alles drin gewesen bei dem Bildungsgang.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Das stimmt. Meine Mutter wollte immer, dass ich Bankkaufmann werde. Na ja, dann habe ich mal zwei Wochen ein Praktikum gemacht und dann habe ich gesagt: „Mutter, es tut mir leid, das ist absolut nichts für mich.“ Und dann war mir schon klar, ich möchte in die Richtung meines Vaters. Ich möchte gern, ja, vielleicht Erzieher, Sozialarbeiter, Pädagoge. Irgendwas in, in diese Richtung und das habe ich dann auch so eingeschlagen. Und dann habe ich auch gesagt, na ja, ich würde schon gerne auch Medizin studieren wollen. Aber das war etwas so Fremdes und neues in unserer Familie. Das war dann schon so ein bisschen größenwahnsinnig, so, was du willst Medizin studieren. Da hat mir der Sport geholfen und zwar, weil ich über die USC Mainz, über die Leichtathletik, ich konnte relativ schnell laufen und gerade 400 Meter schnell laufen. Und das hat mir Selbstbewusstsein gegeben, ja. Wenn Sie dann halt mal Rheinland-Pfalz-Meister sind und bei den deutschen Meisterschaften im Endlauf und Vize-Europameister mit der Staffel werden, das hat mir so das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein gegeben. So, hey, wenn du das so kannst, dann versuch jetzt auch mal Medizin zu studieren.
Volker Pietzsch: Wann, wann war das erste Mal definiert, Medizin, das könnte es sein?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ein stiller Traum war das schon relativ früh, weil ich weiß noch genau, in der Hauptschule haben wir ein Film von Albert Schweizer gesehen, über die Arbeit dort. Und das hat mich unheimlich fasziniert. Dann habe ich später Kontakt mit dem deutschen, aussätzigen Hilfswerk aufgenommen, weil mich die Situation von an Lepra erkrankten Menschen unheimlich betroffen gemacht hat. Und ich habe dann so in der Weihnachtszeit, so Spendendosen ausgeteilt, wo man spenden konnte für die Leprapatienten in Indien und darüber habe ich mich dem Thema immer mehr genähert. Aber das war so, ja, so weit weg von der Realität unserer Familie, dass ich das nie mich getraut hätte, zu formulieren. Aber so-.
Volker Pietzsch: Ist ja vielleicht auch klug, weil die Aussagen, die ja gekommen wären, ach, das klappt eh nicht und so, wären ja auch nicht wirklich förderlich gewesen.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ne, die hätten mich bestimmt nicht motiviert. Es war besser, dieses Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein zu entwickeln und dann zu sagen, so, ich mache das jetzt. Alles andere, also da war viel Skepsis, ja.
Volker Pietzsch: Was war das für ein Gefühl, als Sie gemerkt haben, ich studiere hier gerade Medizin?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Also, es war für mich schon ein großes Gefühl, überhaupt zu studieren. Ich weiß noch genau, der erste Tag an der Fachhochschule, wo ich Sozialarbeit studiert habe, in Wiesbaden. Das war schon, Mensch, du studierst jetzt. Also ja, das war so, schon was Besonderes. Dann Medizin, das war natürlich schon, also das war auch noch ein Kampf. Ich wollte dann nach meinem Fachhochschulstudium Sozialarbeit, ich habe dann gearbeitet. Wollte Medizin studieren, dann hieß es, das ist keine sinnvolle Ergänzung Ihres ersten Studiums. Sozialarbeit und Medizin würden nicht zusammenpassen. Das habe ich nicht so ganz nachvollziehen können-.
Volker Pietzsch: Das kann ich jetzt noch nicht nachvollziehen.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, habe mir dann von, von wirklich bedeutsamen Medizinern so ein Feedback geben lassen und ich weiß noch hier an der Uniklinik war Doktor Schöllmerich. Das war der Leiter, ich glaube der ersten oder zweiten (?Med). Ein ganz toller, älterer Arzt, der mir dann so eine Expertise vermittelt hat, indem er sagt, natürlich, das ist eine absolut sinnvolle Ergänzung oder Erweiterung oder Kombination. Aber das wurde nicht erkannt und dann habe ich irgendwann resigniert und gesagt, ok, dann kann ich das nicht studieren. Und dann gab es aber die Möglichkeit, dagegen zu klagen und das war auch eine interessante Geschichte. Preinersdorfer das ist ein Rechtsanwalt in Stuttgart. Zu dem bin ich über einen Zufall geraten, über die Berufsberatung in Mainz. Preinersdorfer war Autor von Tatortkrimis und er war ein guter Rechtsanwalt. Und ich bin dann einfach nach Stuttgart gefahren, habe ihm die Situation erklärt und dann sagt er: „Och, das ist kein Problem, es ist momentan vor dem Bundesverfassungsgericht ein Präzedenzfall.“ Ja, da geht es genau um diese Konstellation Erststudium, Zweitstudium oder wie auch immer und hat er gesagt: „In einem halben Jahr wird das entschieden und dann sage ich Ihnen Bescheid.“ Und nach einem halben Jahr hat er dann geschrieben, so, das wurde so entschieden, dass quasi das Medizinstudium jetzt ein Erststudium wäre und kein Zweitstudium und dann zählt nur der Abschluss des Erststudiums als allgemeine Hochschulreife. Und dann habe ich innerhalb von vier Wochen einen Studienplatz bekommen. Vorher hatte ich dann schon angefangen Psychologie zu studieren, aber es war, es war Ostern, Weihnachten, Geburtstag, alles zusammen. Also, ich kann Medizin studieren.
Volker Pietzsch: Ja, ist ein Traum in Erfüllung gegangen.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, natürlich noch mit Unsicherheit, mit Angst, schaffst du das, ja. Also, ich war jetzt schon etwas selbstbewusster, aber ich wusste nicht, ob ich jetzt auch dieses Studium erfolgreich absolvieren kann. Aber das hat dann ja-.
Volker Pietzsch. Gut geklappt. Also, auch in der Regelzeit?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, also sechs Jahre. Das ist ja zwölf Semester, sind so. Ich habe glaube ich 13 gebraucht, aber während des Studiums bitte, habe ich, habe ich, beziehungsweise meine damalige Frau, drei Kinder bekommen. Ja, das war die, das war die eigentliche Herausforderung, Familie und Studium zu kombinieren. Da muss man sehr kreativ sein, weil meine damalige Frau, Doris, musste arbeiten, damit wir überhaupt finanziell das schafften. Ich habe zum Glück ein Stipendium bekommen von der evangelischen Kirche. Ohne das Stipendium hätte, hätte ich auch nicht studieren können. Und dann war ich aber mehr bei unserem ältesten Sohn, bei Jari, und dem zweitältesten, bei Milan. Ja, und gerade bei meinem ältesten Sohn, da habe ich mir die, die wichtigsten Dinge im Studium, die Vorlesungen auf Band, auf so eine Kassette, da gab es ja die Kassettenrekorder noch. Habe dann so einen Walkman mir aufgezogen, bin da mit meinem Sohn in so einem Tuch durch die Weinberge spaziert. Damit er schläft und an der frischen Luft ist und ich ganz dicht bei ihm bin und habe mir dann meine selbstbesprochenen Kassetten angehört. So habe ich gelernt, ja. Und das, das war schon eine Herausforderung. Ich war immer so neidisch auf all die anderen Studentinnen und Studenten, die nur lernen konnten. Aber ich muss sagen, das war, war eine anstrengende, war aber auch eine schöne Zeit. Auch die Kinder, den Kindern so nahe zu sein.
Volker Pietzsch: Ich wollte gerade sagen, Sie haben mehr von Ihren Kindern mitbekommen, als wahrscheinlich jeder, der einen normalen Berufsweg geht, weil die sind dann meistens tagsüber weg. Und dann sieht man die Kinder abends noch so ein bisschen, wenn es auch in der Situation vielleicht stressiger ist. Aber man ist bei den Kindern.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja, das stimmt absolut.
Volker Pietzsch: Weil ich habe auch Zuhause gearbeitet, als meine Kinder da waren und das würde ich eigentlich niemals missen, weil das einfach, ja, die Zeit kommt nicht zurück.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, es, es war auch für mich dann eher die Frage, ich höre mit dem Studium auf, um mehr bei den Kindern zu sein, als die Kinder werden weggegeben. Ja, ne, das geht nicht. Das war für uns beide auch klar. Wir sind Mutter und Vater und das bedeutet, wir nehmen die Verantwortung für unsere Kinder und geben jetzt nicht die Kinder irgendwo ab. Das kann für andere ein Weg sein, für uns war das kein Weg. Einer von uns sollte immer bei den Kindern sein.
Volker Pietzsch: Aber, wenn man so weit gekommen ist, dann ist glaube ich der Ehrgeiz, das Studium dann doch durchzuziehen, ziemlich groß, oder?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, natürlich, wie gesagt, ich habe dann Strategien entwickelt, um das irgendwie zu vereinbaren, aber dennoch, weiß ich genau, die Kinder und die Familie waren mir wichtiger.
Volker Pietzsch: Haben das die Eltern noch mitbekommen?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, das haben meine Eltern mitbekommen. Sie haben auch das angeboten, dass dann die Kinder wohl zu ihnen kommen, weil wir hätten keine Zeit und dann haben wir aber meinen Eltern vermittelt, ne, die, das versuchen schon wir irgendwie zu organisieren. Das sind einfach unsere Kinder und wir haben das ganz bewusst entschieden, dass wir Kinder haben wollen und auch nicht nur eins. Sind ja dann vier geworden und dann haben wir das irgendwie zu organisieren und das haben wir gemeinsam geschafft.
Volker Pietzsch: Studium fertig, dann ging es an das Arbeiten. Wohin?
Prof Dr. Gerhard Trabert: Ja, also zuerst habe ich dann nochmal mir so eine kurze Auszeit genommen. Einmal war ich, ich hatte auch noch ein Promotionsstipendium, in New York City gewesen. Habe mir dort die Gesundheitsversorgung von wohnungslosen Menschen angeguckt, in dieser Metropole. Ich war noch auf dem World Trade Center, werde ich auch nie vergessen, es war sehr beeindruckend. Aber auch die, die Armut in dieser Stadt. Es gibt über, schon damals, ist schon länger her, über 70000 wohnungslose Menschen gab es in New York City und danach war ich, war ich dann auch nochmal in Indien in einem Leprakrankenhaus. Und habe dort hospitiert. Das war für mich nochmal wichtig. Gerade Indien war besonders wichtig, weil für mich so die Frage im Raum stand, gehst du als Arzt jetzt auch in die sogenannte dritte Welt, um dort zu arbeiten oder bleibst du in deiner Heimat. Und ich habe es immer wieder erlebt, dass Ärzte in andere Länder gehen, um dort zu helfen, aber nicht in ihrem Heimatland. Und da entstand bei mir auch so, ja, die, entwickelte sich die Entscheidung, nein, ich bleibe in meinem Land. Ich schaue hier, ob es Armut gibt und ich wusste ja schon von meiner damaligen Frau, die als Sozialarbeiterin im wohnungslosen Bereich gearbeitet hat. Und auch aufgrund meiner Dissertationsarbeit zu diesem Thema. Ich habe meine Doktorarbeit geschrieben zur Gesundheitssituation wohnungsloser Menschen, dass dort ein Bedarf ist. Und dann habe ich entschieden, in Indien, ich gehe zurück und werde erstmal als Arzt versuchen, dieses Thema Armut und Gesundheit näher in Deutschland zu untersuchen und zu schauen, welche Bedarfe es hier gibt.
Volker Pietzsch: Wo kam der Blick auf die Armut her? Ich meine, wir machen ja im Alltag mehr, dass wir das ausblenden, nicht sehen wollen. Wann war der Startpunkt, dass Sie dahin geschaut haben?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Also, ich glaube schon, diese Armut, die ich als Kind miterlebt habe. Es war jetzt, denke ich mir, eine Beziehungsarmut all der Kinder im Kinderheim. Dadurch, dass die Eltern verstorben waren oder getrennt waren-.
Volker Pietzsch: Was ja sogar zum Teil noch schlimmer sein kann,
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja, doch. Aber natürlich war es für sie auch ökonomisch-. Ich weiß noch, dann gab es halt Weihnachtsgeschenke und dann hat die Stadt für jedes Kind, ich weiß nicht wieviel, ich glaube 20 D-Mark damals. Und ich wusste genau, ich bekomme Geschenke für 150, 200 D-Mark, also da habe ich schon diesen Unterschied wahrgenommen. Das war was Entscheidendes, aber auch diese Sensibilisierung durch den Film über Albert Schweizer. Und die Armut und die, ja, rudimentäre Gesundheitsversorgung in Afrika. Was mich auch noch, fällt mir gerade ein, sehr berührt hat, war Florence Nightingale, und auch Anre Dinar, ja, da ging es jetzt mehr um die Versorgung von Menschen in Kriegsregionen, die Gesundheitsversorgung. Das hat mich doch sehr geprägt, dieses konkrete und natürlich das, was ich in Indien gesehen habe und hier, die Wohnungslosigkeit. Aber noch was anderes hat mich dann im Weiteren auch sehr stark beeinflusst. Das ist das Thema soziale Gerechtigkeit und da sind wir jetzt schon bei der Politik. Bei gesellschaftlichen Strukturen, das ich doch durch mein Sozialarbeiterstudium, das war von 75 bis 79, das war die Zeit der roten Armee Fraktion. Das war die Zeit, wo massiv die Gesellschaft das Verhalten der etablierten Politik kritisiert wurde, zurecht kritisiert wurde. Die Mittel waren falsch. Gewalt war in meinen Augen immer der falsche Weg. Aber das hier vieles falsch läuft, dass die Verteilung von Ressourcen, von Einkommen, von Geld ungerecht ist, das hat mich auch geprägt. Also, das konkrete und das Gesellschaftspolitische und das habe ich immer versucht, zusammen zu bringen, zu integrieren und hier was zu tun.
Volker Pietzsch: Na ja, es hat sich ja nicht viel geändert.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Das ist die große Enttäuschung und die Frustration, wobei ich da gerne differenzieren würde. Ich habe schon den Eindruck, dass der Mainstream, was die etablierte Politik angeht, in die falsche Richtung geht. Wir haben weiter, immer mehr die Situation, dass die Schere zwischen arm und reich auseinandergeht. Wir haben immer mehr Armut und wir haben immer mehr Menschen, oder weniger Menschen, die immer mehr Vermögen einfach besitzen. Wir haben Strukturen, die weiterhin eine Umverteilung von Geld von unten nach oben praktiziert. Also, das ist ungerecht. Wir brauchen eine höhere Einkommenssteuer, wir brauchen eine Vermögenssteuer und vieles mehr.
Volker Pietzsch: Na ja, alleineerziehend mit Kind, dass das ein Armutsrisiko in einem reichen Land ist, ist einfach eigentlich nicht hinnehmbar, ja.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Da haben Sie vollkommen recht. 45 Prozent aller Alleinerziehenden, in der Regel Mütter, sind von Einkommensarmut betroffen. Und das ist ein Skandal, das heißt, dass unsere, das gesellschaftlich etwas nicht funktioniert. Dass der Familienstatus kann und darf kein Risikofaktor für materielle Armut sein. Das zeigt diese Ungerechtigkeit auf und da gibt es noch viele andere Beispiele. Das macht, ja, das macht wütend und das macht auch ein Stück weg wütend. Aber wissen Sie, was mich motiviert, ist, im Prinzip, gerade auch hier in Mainz, in der Umgebung und jetzt auch über die Grenzen hinaus, spüre ich doch eine sehr hohe Solidarität mit dem, was wir als Verein Armut und Gesundheit tun. Mit den Projekten der Versorgung von armen, deutschen Wohnungslosen, von osteuropäischen wohnungslosen Menschen, von geflüchteten Menschen. Da spüre ich eine höhere Sensibilität und Solidarität, als bei den politisch Verantwortlichen. Da spüre ich eine große Distanz und Diskrepanz zu diesen Lebensrealitäten.
Volker Pietzsch: Lassen Sie uns nochmal zu der Geschichte kommen, wie es überhaupt zu diesem Engagement kam. Sie kamen zurück nach Deutschland und haben auf einmal gesehen, oh die Armut ist auch hier Zuhause.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ich wusste es schon durch die Arbeit meiner damaligen Frau. Ich wusste es durch meine Dissertationsarbeit, aber ich habe jetzt noch genauer hingeschaut und dann entstand bei mir so die Idee. Du hast jetzt eine Doktorarbeit geschrieben, da kommt raus, dass es wohnungslosen Menschen gesundheitlich sehr schlecht geht und dass sie nicht zum Arzt gehen, beziehungsweise dass unser Gesundheitssystem zu hochschwellig ist. Was hilft diese Expertise den Menschen? Erstmal gar nichts. Also, habe ich gesagt, es muss etwas konkret daraus resultieren und dann habe ich das Konzept, dass ich in Indien kennen gelernt hatte, dieses aufsuchende Versorgungskonzept. Die Ärzte sind in die Community gegangen, haben Gesundheitsversorgung im Ort, im Dorf angeboten, habe ich gedacht, ok, jetzt versuche ich das doch hier zu realisieren. Ich gehe jetzt als Arzt in eine Einrichtung der Wohnungslosen Hilfe, ich gehe auf die Straße, ich gehe dorthin, wo die Menschen leben. Und dann hat es allerdings über ein Jahr gedauert, bis ich arbeiten durfte. Ich musste natürlich die kassenärztliche Vereinigung, die Ärztekammer, ich musste die Stadt, das Sozialamt, alle musste ich informieren, von meinem Konzept. Und darum bitten und auch Überzeugungsarbeit leisten, dass das jetzt ein neuer, aber wichtiger und richtiger Weg ist. Und das hat ein Jahr gedauert und dann war es wirklich die KV, die kassenärztliche Vereinigung Rhein-Hessen, die erste, in Deutschland, die einem Arzt, also mir, eine Ermächtigung erteilt hat, wohnungslose Menschen medizinisch versorgen zu dürfen. Denn Sie dürfen nicht einfach als Arzt so arbeiten. Also, man hat mir auch am Anfang entgegnet, Sie dürfen nicht umherziehend Ihren Beruf ausüben. Das ist so Mittelalterquacksalbertum, ne, Sie müssen irgendwo eine Praxis haben und ich habe aber gesagt: „Nein, ich will zu den Menschen hin.“
Volker Pietzsch Heißt übertragen, man darf nicht zu den Menschen gehen und denen helfen?
Prof. Dr. Gerhad Trabert: Genau. Das ist ja skurril und absurd, ja. Aber das sind halt so gesetzliche Vorgaben und Bestimmungen. Aber ich war und bin sehr dankbar, auch dem damaligen Sozialamtsleiter und eben auch der KV Rhein-Hessen, dass sie so mutig waren und haben gesagt:“ Doch, wir gehen den Weg mit Ihnen, wir glauben Ihnen das. Sie haben auch diese wissenschaftliche Expertise uns vorgelegt, dann lassen Sie uns das versuchen.“ Und ja, dann habe ich halt einfach angefangen neben meinem Job im Krankenhaus, das war ja mein, mein Hauptverdienst-.
Volker Pietzsch: Ich wollte gerade sagen, das muss ja auch bezahlt werden.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Klar, ich war in Alzey im Kreiskrankenhaus damals tätig als Stationsarzt auf einer onkologischen Station hauptsächlich. Habe da meinen Allgemeinmediziner gemacht, meinen Facharzt und auch meinen, also die Notarztausbildung. Das war auch alles sehr wichtig, ja, und habe neben dieser Haupttätigkeit dann versucht, diese Gesundheitsversorgung für wohnungslose Menschen hier in Mainz aufzubauen.
Volker Pietzsch: Wie muss ich mir das vorstellen? Die Sachen gepackt und auf die Straße gegangen und gesucht?
Prof Dr. Gerhard Traber: Ich habe mich schon vernetzt. Ich denke, Teamwork und Netzwerk-Arbeit ist wichtig. Ich habe mich damals an die Sozialarbeiter gewandt, die hier arbeiten von der Pfarrer-Vandvogt-Hilfe, die Streetworker. Und habe einfach gesagt: „Kann ich mit euch mitgehen?“ Und habe dann zu den beiden Wohnheimen, die es hier gibt, Taddäusheim und Egliheim, da habe ich gesagt: „Darf ich Zimmer zur Verfügung haben, um eine Sprechstunde in diesem Heim anzubieten.“ Das haben die auch dann mitgemacht. Das war auch sehr schön. Dann war eine Ordensschwester, die sich, die in einem Zeitungsartikel gelesen hat, ich mache so etwas und dann hat sie gefragt, ob sie mitarbeiten kann. Die Schwester Maria Theresia, die war dann von Anfang an dabei, ja, ich glaube, über 20 Jahre haben wir zusammengearbeitet. Das lief alles, finde ich, sehr gut. Aber dann, war zum Beispiel klar, wenn ich in der Fußgängerzone bin mit den Streetworkern, habe meinen Arztkoffer dabei und sage ich muss Sie jetzt abhören. Dass ich nicht sagen kann, machen Sie sich hier mal frei. Also, es brauch einen Schutzraum und es brauch also einen mobilen Schutzraum und da entstand die Idee, ein fahrbares Sprechzimmer brauche ich einfach. Und ein paar Jahre später kam dann dieses Arztmobil dazu-.
Volker Pietzsch: Was heißt, kam dazu? Da muss ja irgendwas passiert sein.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Richtig, ja, dass, also ich hatte dieses Konzept in der Tasche, aber ich habe nicht das Geld gehabt, um, um jetzt ein Arztmobil, das so umgebaut ist wie ein fahrbares Sprechzimmer anschaffen zu können. Und dann kam der Zufall, wie das so häufig ist, dazu, und zwar hat Phil Collins, hat ja ein Lied, Another Day in Paradise, da beschreibt er die Situation einer wohnungslosen Frau. Und er hat aus den Einkünften von diesem Lied, den deutschen Caritasverband 200.000 D-Mark gespendet und ich habe dann beantragt, da einen Anteil zu bekommen. Und 20.000 D-Mark habe ich bekommen, habe dann dieses Arztmobil angeschafft und es war klar, ich kann als Privatperson nicht so etwas mit Spendengeldern, also das geht ja nicht. Und dann habe ich den Verein Armut und Gesundheit in Deutschland gegründet mit noch verschiedenen anderen Akteuren, unter anderem mit Gisela Bill, von den Grünen, die lange Geschäftsführerin war von diesem Verein. Und sie war mit damals als Gründungsmitglied beteiligt und dann haben wir zusätzlich-. Also, mir war klar, es geht nicht nur in Anführungszeichen um wohnungslose Menschen. Das ist so die Spitze des Armutseisberges in unserer Gesellschaft, deshalb wollte ich auch den Verein Armut und Gesundheit in Deutschland, um breiter aktiv werden zu können, benannt. Und dann haben wir Verein gegründet, der hat die Trägerschaft von diesem Arztmobil übernommen. So ging das immer weiter. Jetzt, der Bedarf ist immer größer geworden und die Menschen, die mich da unterstützen, sind auch immer mehr geworden. Das ist auch sehr schön.
Volker Pietzsch: Aber es ist natürlich kein gutes Zeichen, dass der Bedarf größer wird.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Absolut, ja. Da haben Sie auch wiederum Recht. Ich sage immer wieder, es ist ein Skandal, dass es uns gibt, dass es uns geben muss-.
Volker Pietzsch: Aber es ist kein, kein Skandal, dass es Sie gibt. Das ist, würde-.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, aber, dass es uns, unsere Einrichtungen gibt. Wir haben ja jetzt, vor vier Jahren auch noch, auf der Zitadelle eine Ambulanz ohne Grenzen, eine Poliklinik, aufgebaut, ein stationäre Anlaufstelle, wo wir ja 30, 35 Ärzte und Ärztinnen haben. Die ehrenamtlich uns für Stunden unterstützen, wo die Sozialarbeit schon immer, war die Sozialarbeit sehr wichtig, aber auch dort haben wir festangestellte Sozialarbeiterinnen. Wir haben Krankenschwestern, Arzthelferinnen, wir haben eine Ärztin. Also, alles viel breiter aufgebaut, weil der Bedarf immer größer wird und da haben Sie vollkommen Recht. Das ist schon, ja, ein Armutszeugnis. Das habe ich dann auch erkannt, dass auch immer mehr Menschen zu mir in das Arztmobil gekommen sind. Eben auch die alleinerziehende Mutter, der Rentner, der sich die Zuzahlung nicht mehr leisten kann und da war klar, wir müssen noch ein weiteres Modul anbieten der Gesundheitsversorgung.
Volker Pietzsch: Wie war das, noch einmal ganz, ganz kurz zurückspringen. Wie war das, als Sie zum ersten Mal zum Beispiel Obdachlose auf der Straße angesprochen haben und das angeboten haben. Wurde das sofort angenommen oder war da auch ein bisschen Skepsis dabei?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ne, aber das, das hat so eine Geschichte gehabt. Also, einmal hat ja meine damalige Frau als Sozialarbeiterin im Taddäusheim gearbeitet. Ich habe dort so eine Sportgruppe begleitet. Ich hatte ja diese Affinität, diese Nähe zum Sport und habe mit Wohnungslosen Sport gemacht in, in der Freizeit. Also, von daher kannten mich viele. Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich über drei Monate dann in der Teestube gearbeitet und von daher kannten mich auch viele.
Volker Pietzsch: Ok, darum ging es mir eigentlich gerade so ein bisschen, weil es ist ja eine Vertrauensbeziehung, die da sein muss. Weil ich gehe ja auch zu einem Arzt, zu dem ich Vertrauen habe und nicht zu irgendeinem.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, das ist ganz wichtig. Man kann nicht einfach sagen, Hallo, hier bin ich, sondern es braucht die Kontinuität der Beziehung, der Begegnung, des Kennenlernens und das hatte alles vorher stattgefunden, ja. Und dann war halt der nächste Schritt, so, jetzt bin aber nicht als jemand der mit euch Sport macht, sondern ich bin jetzt Arzt und jetzt würde ich gerne für Sie diese Gesundheitsversorgung vor Ort einfach anbieten wollen. Und das wurde sofort angenommen, ja, viele kannten mich. Oder das geht ja auch in der Szene sehr schnell rum, dass man sagt, ja, zu dem kannst du gehen, der ist in Ordnung. Der hat auch mit uns Fußball gespielt oder das und das gemacht-.
Volker Pietzsch: Und irgendwann spricht es sich rum und dann weiß man, er ist unterwegs oder das Team ist unterwegs und dem kann man vertrauen und-.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Genau. Das ist wichtig, dass sie das auch nochmal gesagt haben. Wir sind ein Team, ich bin auch die Spitze dieses Versorgungseisberges, alleine bin ich nichts. Es ist, diese Arbeit, die wir leisten, geht nur im Team. Wir haben sehr viele ehrenamtliche Mitarbeiter und Helfer, aber wir haben auch Festangestellte und das ist genauso bedeutsam. Das ist eben, ja, fast bedeutsamer, weil damit wird auch Kontinuität, Professionalität institutionalisiert. Ja, wir haben da sehr viele Mitarbeiter und ich merke immer wieder, dass alle über das Maß hinaus sich hinaus engagieren. Ja, das ist wichtig, dass man eine gemeinsame Spirit hat. Wir haben mittlerweile auch Ethikleitlinien entwickelt. Jeder, der bei uns mitarbeiten möchte, muss sich diese Ethikleitlinien anschauen und das auch unterschreiben, dass er damit d’accord geht. Also, wir sind schon ein großes Team mittlerweile, aber es ist-. Ich lerne so viel von den Menschen, die mithelfen und mitarbeiten. Das ist schon sehr, sehr schön und faszinierend und gibt mir auch unheimlich viel Kraft, das zu sehen, dass so viele Menschen sich so engagieren.
Volker Pietzsch: Und Sie haben jetzt gerade schon so angedeutet, also, wenn man das hört, hat man sofort Obdachlose im, im Bild und im Sinn. Aber tatsächlich, Ihre Kunden sage ich jetzt einfach mal, sind viel größer, Ihre Patienten.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, wir haben jetzt immer häufiger Menschen, die in Osteuropa leben, die zu uns kommen und Arbeit suchen. Das ist eine ganz prekäre Situation für viele EU-Bürger, die ganz legal bei uns sind. Aber wenn sie kein versicherungsrechtliches Arbeitsverhältnis haben, haben sie keinen Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung oder auch eine Übernachtung. Die Stadt bietet hier zwei Wochen Übernachtung maximal für die Menschen an, in den bestehenden Wohnheimen. Das ist in meinen Augen zu wenig, aber momentan sind wir mit der Stadt am Verhandeln. Wir wollen so etwas wie eine Krankenwohnung anmieten, denn im Januar dieses Jahres ist ein, ein Mensch, dem ein, ein Mann, den wir lange Zeit begleitet haben in der Tiefgarage am Rathaus verstorben. Er ist nicht erfroren, aber hätte er andere Übernachtungsmöglichkeiten gehabt, nicht immer in der Tiefgarage oder der Straße oder sonst wo, dann hätte er nicht sterben müssen. Also, da ist ein großes Defizit. Zu uns kommen Menschen, die aus dem Knast entlassen werden, denn viele wissen nicht, dass es ungefähr vier bis sechs Wochen dauert, bis sie eine Versichertenkarte haben. Und dann ist die Frage, ja, was passiert in der Zeit. Dann kommen die Menschen zu uns und sagen, ich bin vorgestern aus dem Gefängnis entlassen, ich bin Diabetiker, ich brauche heute mein Insulin und nicht in sechs Wochen. Das ist eine Katastrophe, dass man das logistisch noch nicht gelöst hat, das Problem, denn man weiß ja in der Regel, wenn einer aus dem Gefängnis entlassen wird. Es sind privat versicherte Menschen-.
Volker Pietzsch: Ich wollte gerade sagen. Selbst im selbstständigen Bereich findet man immer mehr Menschen, die sich die Krankenversicherung nicht leisten können.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Genau, ja, die liegt ja dann so bei 600 Euro. Das ist der Kleinunternehmer, der vielleicht in eine Insolvenz geraten ist. Es ist der Selbstständiger, der Künstler. Da gibt es auch Möglichkeiten, den Beitrag zu reduzieren, aber das kriegen die Menschen häufig nicht vermittelt. Das ist so ein Arbeitsfeld unserer Sozialarbeiterinnen, die da mal schauen-.
Volker Pietzsch: Wenn diese Spiral einmal gelaufen ist, dann dauert es ja auch erstmal, bis man das wieder im Griff hat.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Richtig. Die, also wir sind immer bemüht, gerade unsere beiden Sozialarbeiterinnen, Frau Temitz und Frau Kleinerhanding, die immer wieder schauen, welchen Weg gibt es zurück in das System, ja. Also, wir wollen die Menschen ja wieder zurückführen in das normale Versorgungssystem, was uns auch häufig gelingt. Aber das braucht Zeit, das braucht Wissen und das braucht Beharrlichkeit. Wir führen auch häufiger jetzt, weil wir auch mit dem Rechtsanwalt kooperieren, Prozesse gegen Jobcenter oder andere Institutionen, Krankenkassen. Und in 80, 90 Prozent gewinnen wir, ja, weil eben nicht rechtskonform beraten wird. Das finden wir auch als einen Skandal und wir haben auch Menschen, die geflüchtet sind, die zu uns gekommen sind, sogenannte Asylbewerber. Weil, ja auch hier gibt es nur einen rudimentär, rudimentären Gesundheitsversorgungsschutz. Es heißt immer, nach diesen gesetzlichen Bestimmungen, nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände dürfen versorgt werden. Das halten wir für absolut nicht recht, menschenrechtskonform. Also was ist mit dem Menschen, der chronisch krank ist, der Epileptiker ist, Diabetiker, Hypertoniker. Darf ich den nicht behandeln? Ja, da fordern wir auch, dieser Paragraph muss reduziert werden-.
Volker Pietzsch: Und vor allen Dingen auch, wer trifft diese Einschätzung? Das ist ja, also jetzt für mein Gefühl auch willkürlich, was, was ich jetzt hier gerade für eine Situation habe, oder?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Absolut ja. Also, wir empfehlen ganz klar allen Ärzten, immer zu sagen, das ist etwas Akutes, ja. Wir als Ärzte sind nicht die Erfüllungsgehilfen von solchen gesetzlichen Bedingungen, sondern wir sind unserer Ethik verpflichtet und das heißt, wir schauen nicht darauf, ist das jetzt etwas Akutes oder etwas Chronisches, ja. Denn wenn ich einen chronisch erkrankten Patienten nicht behandele, wird es natürlich irgendwann akut werden. Also das finden wir absolut nicht in Ordnung. Wir sind froh, dass jetzt auch die Stadt Mainz die Gesundheitskarte eingeführt hat. Das war ein langer Kampf. Wir haben da gerade auch mit Medinetz Mainz zusammen immer wieder gefordert, dass hier diese Karte eingeführt werden muss, weil die administrativen Hürden waren immens groß in unseren Augen. Man musste immer einen Schein vom Sozialamt haben, mit diesem Schein, dass man krankenversichert ist, konnten viele niedergelassenen Ärzte nichts anfangen. Das hat dazu geführt, dass die Versorgung meistens verzögert wurde, nicht schnell genug und nicht adäquat genug für die Menschen da war. Also das ist auch noch eine Berufsgruppe, illegalisierte Menschen ist eine Personengruppe. Also es sind viele Menschen, die mittlerweile zu uns kommen, ja, weil unser Versorgungssystem immer grobmaschiger wird und die Menschen da durchfallen.
Volker Pietzsch. Und jetzt haben Sie viel damit zu tun, Ihr Team hat viel damit zu tun, wird denn von der Politik auch Ihre Expertise eingefordert? Finden Sie da Gehör?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ich würde mal behaupten, nicht wirklich, ja. Also, das ist natürlich jetzt sehr heikel. Ich würde mir auf kommunaler Ebene noch mehr Kooperation wünschen. Ich glaube, wir sind jetzt mit dem neuen Sozialdezernenten Herrn Lench hoffen wir auf eine intensivere Zusammenarbeit und ich sehe da schon sehr positive Signale. Ich hoffe, dass wir das intensivieren können, diese Kooperation. Auf Landesebene sehe ich bei unserer Gesundheitsministerin Frau Bätzing-Lichtenthäler, und auch bei unserer Migrationsministerin Frau Spiegel schon auch sehr gute Ansätze. Es gibt ja auch da so ein Konzept, jetzt das Thema Armut mehr zu berücksichtigen. Aber auch da würde ich mir wünschen, dass wir mehr noch wirklich konkrete Projekte umsetzen. Wir brauchen nicht mehr so viel Analysen und Expertisen. Wir wissen, was es, was Armut bedeutet und wir wissen, was man dagegen tun kann. Es kommt jetzt darauf an, dass umzusetzen und praktisch umzusetzen. Auf Bundesebene sehe ich absolut schwarz. (Lacht) Schwarz, gelb, grün jetzt ja, ja nicht mehr scheinbar. Da fehlt wirklich jetzt in den letzten Jahren die Einsicht, dass hier etwas geändert werden muss. Also, der Hartz-Vier Satz muss erhöht werden. Das ist einfach zu wenig, wenn Sie als alleinerziehende Mutter mit einem fünfjährigen Kind nur zwei Euro 98 für Frühstück, Mittagessen und Abendessen zur Verfügung haben, aufgrund dieses Budgets, im Hartz-Vier Satz, dann ist das ein Skandal, ja. Ich kann ein Kind nicht mit drei Euro gesund ernähren. Da muss sich was ändern, ja. Ich sehe bei keiner Partei ein Armutsbekämpfungskonzept. Das ist eine Katastrophe. Wir schliddern auf einen Tsunami der Altersarmut zu, ja, auch da muss es andere Sicherungssysteme geben. Wir brauchen ein Gesundheitssystem, was wieder solidarisch ist, ja. Wir brauchen die Parität, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlen. Das ist ja auch nicht mehr der Fall. Keine Zuzahlungen. Die Menschen müssen gerade mit einem unteren Einkommen, oder die von sozialen Transferleistungen abhängig sind, keine Eigenbeteiligungen, keine Rezeptgebühren. Ja, also da muss sich was ändern und da ist die Politik meilenweit, glaube ich, also die etablierte Politik in Berlin meilenweit davon entfernt.
Volker Pietzsch: Aber woran liegt das? Es kann in unserem Land nicht am Geld hängen.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Nein, daran nicht. Wir sind das viertreichste Land der Welt. Wir sind das reichste, europäische Land, wir haben genug Geld. Also, genau-.
Volker Pietzsch: Wir haben gesehen, wie man Milliarden über Nacht mobilisieren kann, um systemrelevante Flanken zu retten.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Richtig, ja. Also, ich sage immer, da läuft etwas falsch, wenn eine Gesellschaft Banken rettet, aber nicht mehr Menschen rettet, ja. Wir haben das Geld. Das Beispiel, das Sie nennen, ist wirklich exemplarisch.
Volker Pietzsch: Es ist einfach das Größte und das Plakativste, was es gibt.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, aber da wird es auch am deutlichsten, dass wir das Geld haben, ja. Und das ist eben ungerecht verteilt wird. Wir haben also kein Problem, dass wir nicht genügend Geld haben, sondern wie verteilen wir das Geld und wie nehmen wir das Geld ein. Da ist eine große Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft weiterhin vorhanden. Wir können vielmehr tun und ich lasse das auch nicht gelten als ein Argument. Ja, wir haben doch, wir müssen mit unseren Ressourcen sparsam umgehen. Nicht, was, was die Armutsbekämpfung angeht. Da können wir, und müssen wir wesentlich mehr. Warum das jetzt politisch nicht praktiziert wird und scheinbar auch nicht gewollt ist, das ist jetzt eine spannende Frage. Also, einmal hat es meines Erachtens damit zu tun, dass immer mehr Politiker aus der oberen Mittelschicht, aus der Oberschicht kommen. Sich überhaupt nicht mehr ein Leben vorstellen können, was viele in unserem Land leben müssen mit sehr wenig finanziellen Ressourcen. Was es bedeutet, arm zu sein, in so einem reichen Land, ja. Immer wieder ausgegrenzt, an den Rand gedrängt zu sein. Aber ich überlege schon, und jetzt kommt so eine Systemkritik, dass in dieser doch kapitalistischen Demokratie, dieses Leistungsorientiersein, dieses, diese Profitmaximierung, dieses Angepasstsein erforderlich ist. Und dass diese Reglementierung, diese Schöpfung von Armut und Manifestation von Armut auch eine systemimanente Strategie ist, ja. Und, Stéphane Hessel , vielleicht gerade noch das. Muss ich jetzt einfach noch erwähnen. Das ist ein Franzose, der in Berlin aufgewachsen ist, der dann immigriert ist nach Frankreich, als Hitler-Deutschland kam. Der in der Résistance gekämpft hat, der im KZ Buchenwald war. Der geflohen ist, der bei der Deklaration der Menschenrechte beteiligt war. Der hat 2010 einen Aufsatz geschrieben, der heißt Empört euch. 90-Jährig schreibt er diesen Aufsatz und kritisiert diese Orientierung auf den Finanzkapitalismus, auf Leistung in Europa und sagt, Europa muss sich wieder mehr diesen humanitären Werten, den Menschenrechten widmen und das in den Mittelpunkt stellen. Und er hat so einen schönen Satz, er sagt, leistet Widerstand und schafft Neues, schafft Neues und leistet Widerstand. Und genau das empfinde ich auch in unserer konkreten Arbeit. Dieser gesellschaftlichen Entwicklung Widerstand zu leisten, weil ich es nicht akzeptiere, aber das bleibt nicht bei dem verbalen Widerstand, sondern wir versuchen immer auch konkret durch praktische Projekte zu zeigen, es gibt einen anderen Weg. Und den können wir gehen und den müssen wir gehen.
Volker Pietzsch: Es gibt ja auch durchaus schon eine Menge von Gesellschaftsmodellen, die durchdacht sind, was weiß ich, nennen wir erst bedingungslose Grundeinkommen. Die eine völlig andere Gesellschaft hervorbringen würden, aber natürlich auch andere Menschen. Das bedeutet natürlich Menschen, die nicht mehr von Lohnarbeit, Erwerbsarbeit abhängig sind, werden sich anders verhalten.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja, das ist richtig und dann wird immer dann diffamierend gesagt, das ist kommunistisch, das ist sozialistisch, was auch immer. Nein, das ist gerechter in meinen Augen. Das hat nichts mit diesen Ideologien zutun, ja, diese gerechteren Gesellschaftssysteme.
Volker Pietzsch: Ich habe, ich habe viel darüber gelesen. Ich glaube, wir werden zum ersten Mal, wenn es kommen würde, einen richtigen Arbeitsmarkt bekommen, weil derjenige, der einen Job zu vergeben hat, der nicht so toll ist, der muss sich was einfallen lassen, damit der gemacht wird.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Also, ja, klar. Mindestlohn, Billiglohnsektor, das ist ja auch alles, waren alles diese Ergebnisse von Schröders Reform, 2000, Agenda 2010. Viele sagen, diese Reform ist verantwortlich für unsere wirtschaftliche Stabilität. Ja, für einen Teil unserer Menschen in dieser Gesellschaft, für einen anderen großen Teil war das die absolute Katastrophe. Das hat Armut manifestiert und fordern und fördern, ja. Also, es wird doch mehr gefordert als gefördert in unserem Land. Also, da ist ein Ungleichgewicht und ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Wir müssen da ganz umdenken und wegkommen immer von diesen auch, dass Menschen sich dann in einer sozialen Händematte zurückziehen wollen. Das ist auch quatsch. Der Mensch, also, ich habe so viele Menschen getroffen, die würden unheimlich gerne arbeiten, aber sie wollen natürlich auch eine Arbeit, wo Respekt und die würdevoll ist. Und die entsprechend auch honoriert wird und das ist ja auch nachvollziehbar.
Volker Pietzsch: Vielleicht gibt es auch welche, die können gar nicht, aber das ist auch in Ordnung, wenn wir einmal ein Modell haben, dass jeder sein Auskommen hat, dann, dann ist das halt so.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Genau. Ja, eben, da haben Sie, gebe ich Ihnen absolut Recht. Manche Menschen können gesundheitlich oder ja körperlich, physisch-.
Volker Pietzsch: Aber der Grund ist mir dann auch egal, wenn wir neu denken.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Eben. Warum müssen wir das immer bewerten, ja, und dann bestrafen oder honorieren. Also, da müssen wir davon wegkommen. Und da frage ich mich natürlich gerade, bei diesen Diskussionen würde ich mir zum Beispiel wünschen, dass die Kirche eine aktivere Rolle der Kritik einnimmt. Ja, also wir sind ja schon noch eine humanistisch-christliche Gesellschaft und da wird mir zu wenig Kritik auch geäußert und zu wenig auch getan, um, um das Thema Armut und soziale Gerechtigkeit einzufordern, ja. Also, in, in der Politik und dann haben die Parteien, na ja, das ist jetzt egal, ob man das C drin hat oder das S drin hat. Viele entfernen sich immens von, von dem, was sie mal in ihren Parteiprogrammen drin hatten.
Volker Pietzsch: Da höre ich aber ein bisschen Frustration raus.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, Frustration und es wird jetzt immer-. Also, dass es die AFD gibt, das ist eine Katastrophe. Dass es diese Form von Nationalismus und Rassismus gibt und nichts anderes ist das. Ja, das ist eine rassistisch, menschenverachtende Gruppierung, aber, dass es diese Partei, dass es diesen Zuwachs gibt, das ist auch das Versagen der etablierten Parteien. Weil sie das Thema soziale Gerechtigkeit nicht wirklich auf ihrer Agenda haben. Dadurch haben sich so viele Menschen abgehängt gefühlt, nicht verstanden gefühlt und laufen dann genau dorthin zu Menschen, zu einer Partei, oder was es auch immer ist, die überhaupt nichts tun für sozial benachteiligte Menschen. Dann sollen mal all die Wähler in das Parteiprogramm der AFD schauen, ja. Das ist eine Katastrophe, ja. Da geht es noch mehr um die Verteilung von unten nach oben. Diese Partei macht überhaupt nichts für von Armut betroffene Menschen und sie ist halt einfach eine Katastrophe, ja.
Volker Pietzsch: Und Sie helfen nicht nur hier bei uns in Mainz, sondern Sie sind auch immer noch unterwegs. Sie waren auch, und das ist ja auch ein Thema warum wir die AFD so stark haben in unserem Land, Sie waren auch auf dem Mittelmeer unterwegs. Haben Flüchtlingsboote gesehen, Menschen wahrscheinlich auch mit aufgenommen. Was ist das für ein Gefühl?
Prof. Dr. Gerhard Trabert Ja, also, wir haben ja in Europa wieder so einen Nationalismus. Wir haben eine Abschottung Europas. Die Außengrenzen werden geschlossen. Wir haben Frontex, das ist eine paramilitärische, was weiß ich auch, Einheit, die ist nie wirklich vom europäischen Parlament gewählt worden zum Schutz der Außengrenzen. Der Reichtum Europas, der Reichtum Amerikas, aber jetzt bleiben wir bei Europa, basiert unter anderem auf der Ausbeutung und der Kolonialzeit Afrikas. Das muss man auch immer wieder sehen. Unser Reichtum ist das, resultiert auf der Armut in diesen Ländern. Jetzt, im Rahmen der Globalisierung, der näher, kommen immer mehr Menschen aus Bürgerkriegsregionen, aus Armutsregionen, nach Europa. Was für mich absolut nachvollziehbar ist und es ist deren Recht. Es ist deren Recht, dort zu fliehen. Jetzt schottet sich Europa ab. Die Schließung der Balkanroute, Mittelmeer, diese Politik, die betrieben wird, führt tausende Menschen in den Tod. Aber immer häufiger unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Also, wenn ich die Balkanroute schließe, ich war in der Türkei, ich war in Syrien ich war im Irak, ich war im Libanon, dann können diese Menschen eben nicht mehr in die Sicherheit fliehen. Sondern die Flüchtlingslager sind jetzt in Jordanien, in Libanon, in der Türkei oder in Syrien oder im Irak, unter katastrophalen Bedingungen. Und das ist wirklich, das ist für mich sehr schwer auszuhalten. Diese ignorante Politik, die dazu führt, dass Menschen in ihrem Elend bleiben müssen, dass es keine Verbesserung gibt, aber wir sagen, na ja, das Problem ist jetzt nicht mehr so groß. Diese Flüchtlingspolitik ist verantwortlich für den Tod im Mittelmeer. Natürlich sind die Schlepper auch verantwortlich. Aber wir könnten, wir müssten legale Zugangswege schaffen, wir müssen eine Rettung im Mittelmeer organisieren, die verhindert, dass Menschen sterben. Und nicht diese Blockade und diese Ignoranz. Also, der, dass kann mir keiner sagen, er hat das nicht gewusst, von den politisch Beteiligten. Diese Politik, Verweigerungs- und Abschottungspolitik bedeutet den Tod von tausenden von Menschen.
Volker Pietzsch: Und letztendlich jeder von uns trägt auch ein bisschen dazu teil, weil so wie wir konsumieren, so wie wir leben, hat das Einfluss auf die ganze Welt.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, also wir müssen bewusster leben, wir müssen, wenn wir uns das leisten können, aber viele können sich das auch leisten, genau schauen, was wir einkaufen. Wir haben uns so aufgeregt über TTip) mit, mit USA, das darf nicht sein, dieses Wirtschaftsabkommen. Europa hat brutal ein indisches Abkommen den afrikanischen Ländern aufgedrückt. Ja, wo sie Garantien hatten, dass sie ihre Überschussware exportieren können. Dass vor der westafrikanischen Küste weiter norwegische und isländische und was weiß ich Fischer die ganzen Fischbestände abfischen dürfen, ja. Das, das hat man Afrika aufgedrängt, aufgedrückt. Hier gibt es nicht wirklich eine emanzipierte Wirtschaftspolitik. Man stärkt nicht wirklich die Infrastruktur und die Wirtschaftsstruktur in diesen Ländern. Unsere Geflügel, ist jetzt nur ein Beispiel, wir schicken unsere Abfallprodukte nach Afrika und der afrikanische Hühnerfarmer kann nicht existieren dann, weil seine Hühner einfach zu teuer sind, im Vergleich zu dem, was Europa dorthin sendet. Also, wir müssen endlich wahre Entwicklungspolitik betreiben, das heißt, die Strukturen in den Ländern wirklich unterstützen und nicht deutsche Firmen subventionieren, die dort wieder investieren. Sondern vor Ort müssen wir investieren. Und wir müssen einfach mal realisieren, diese Leistungs- und Profitmaximierung ist nicht möglich. Wir müssen anfangen, zu teilen. Wir müssen von unserem Reichtum, ja, abgeben und nicht nur von dem Überschuss, sondern wir müssen uns auch beschränken lernen.
Volker Pietzsch: Was ist das, wenn so ein Boot, wenn man da dicht drankommt, was, ich weiß nicht ob man das überhaupt, wie geht man da abends nach so einem Tag mit um? Das, das muss man auch verarbeiten, oder?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Das ist richtig. Es ist natürlich was ganz anderes, wenn Sie in der Weite des Mittelmeeres, Sie sehen überall nur Wasser, Sie sehen bis zum Horizont Wasser. Und dann, wir haben ja mit Ferngläsern Ausschau gehalten, ob wir Boote entdecken. Wir waren auch mit der italienischen Küstenwache immer in Kontakt, mit der Leitstelle in Rom. Aber diese kleine Rubberboats, diese Schlauchboote, die können Sie häufig im Radar gar nicht erkennen. Wenn Sie dann so einen kleinen Punkt am Horizont sehen, dann steuern Sie mit Ihrem Schiff, mit der Seawatch war ich ja unterwegs dorthin, dann sehen Sie in so einem Schlauchboot 150, 160 dicht gedrängte Menschen. Die sitzen wirklich am Rand des Bootes, ja. Keiner hat eine Schwimmweste, 90 Prozent können nicht schwimmen. Wenn da irgendjemand in das Wasser fällt, dann ertrinkt er. Dann war es ja so, dass wir erst vorsichtig die Menschen, zuerst haben wir ihnen Rettungs-.
Volker Pietzsch: Da ist auch niemand dabei. Das heißt, die Schlepper setzen die quasi auf das-. (Prof. Dr. Gerhard Trabert: Genau) Ok.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Die Schlepper geben denen zwei Benzinkanister und vielleicht ein bisschen Trinkwasser und dann ab. Und sie haben uns erzählt, häufig auch unter Waffengewalt, ihr fahrt jetzt, sonst werdet ihr erschossen und dann fahren die halt in das Mittelmeer. Und dann, und wenn die Menschen dann bei uns an Bord waren, spüren sie diese tiefe Erschöpfung und das ist schon mal sehr bewegend. Und dann kommt so eine Euphorie, man hat es geschafft, man ist jetzt in Sicherheit. Und wir wussten, ihr habt jetzt erst noch gar nichts geschafft. Ihr seid jetzt in Sicherheit, ihr seid nicht ertrunken im Mittelmeer, aber ob ihr in Europa bleiben dürft, das ist die große Frage. Vielleicht werdet ihr wieder, die meisten von euch wieder zurückgeschickt, aber das konnten wir natürlich den Menschen nicht vermitteln. Und was sie uns dann erzählt haben, über ihre Flucht, über das, was sie auf ihrer Flucht erlebt haben. Viele sagen, warum sind denn so viele Frauen, die flüchten, schwanger. Die sind schwanger, weil sie vergewaltigt wurden. Die sind missbraucht worden. Wir, wir hatten ein 16-Jähriges Mädchen aus dem Niger. Sie hatte Angst gehabt, dass sie schwanger sei, weil sie vergewaltigt wurde. Wir haben einen Schwangerschaftstest gemacht und sie war nicht schwanger und sie war so erleichtert. Und was uns die Männer von diesen Lagern in Libyen erzählt haben, ja, unter welchen Bedingungen, dass jeder kleine Junge in Libyen eine Schusswaffe hat und dann sagt, gib mir dein Geld, gib mir das. Das ist unvorstellbar. Wir wissen auch gar nicht, wieviel tausend Menschen in der Wüste umgekommen sind, ja. Die es gar nicht bis zur Küste Nordafrika geschafft haben. Und das ist einfach in, in dieser persönlichen Begegnung bekommt das natürlich eine ganz andere Wertigkeit und das macht erstmal nur nachdenklich und traurig. Und das macht dann aber sehr, sehr wütend, ja. Dass diese Politik weiter so ignorant ist, dass wir es nicht schaffen, in diesem reichen Europa, diese Quotenregelung umzusetzen, solidarisch. Und ich sage, wir können locker noch eine Million geflüchtete Menschen aufnehmen. Das macht uns auch nichts, das würden wir auch, wenn wir es wollen, würden wir das verkraften. Ja, wirtschaftlich wäre das kein Problem und was gibt es wichtigeres, als, als Menschen wieder eine Heimat und Sicherheit zu geben. Und die meisten wollen nicht bei uns bleiben. Sie wollen doch wieder in ihre Heimat.
Volker Pietzsch: Ich glaube, das kann jeder, der ein bisschen nachdenkt, nachvollziehen, wer sich hier Zuhause fühlt und sich vorstellt, dass er an einen anderen Ort müsste. Der wollte auch schnellstmöglich wieder zurück. Also, das finde ich naheliegend, dass man sich da reindenken kann.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Genau, und dieser Rassismus oder diese Skepsis oder was auch immer. Das ist ja auch interessant. Das haben Sie in den Regionen Deutschlands am stärksten ausgeprägt, wo am wenigsten geflüchtete Menschen sind. Ja, also in Ostdeutschland, in vielen Regionen, in Sachsen oder sowas, AFD immens hohe Zahlen. Die Menschen haben nie im Kontakt zu einem geflüchteten Menschen gehabt, denn überall dort, wo bei uns Begegnung stattfindet, dann entsteht auch mehr Verständnis. Denn man sieht in dem Menschen, in dem geflüchteten Menschen einen Menschen wie du und ich. Natürlich gibt es da auch immer wieder Situationen, natürlich gibt es darunter auch Menschen, genauso wie es chaotische Ärzte, Rechtsanwälte und was weiß ich, gibt, gibt es auch chaotische geflüchtete Menschen, ja. Aber das ist absolut die Minderheit, ja. Das ist nicht das Thema. Wir müssen aber natürlich auch bedenken, dass wir sehr viele junge Menschen, die zu uns geflüchtet sind, dass wir auch mit diesen jungen Menschen etwas tun, dass wir ihnen eine Aufgabe geben. Wenn die nur in den Lagern rumhängen, das ist egal, ob die aus Syrien, aus dem Tschad aus dem Gambia oder aus Deutschland kommen. Auch wenn sie junge deutsche Menschen haben, wenn, wenn sie nichts zu tun haben, keine Aufgabe haben, wenn nichts mit ihnen gemacht wird, dann wissen sie nichts mit ihrer Freizeit anzufangen. Und dann kann es zu solchen immer wieder beschriebenen Auswüchsen kommen. Aber das ist auch wieder in meinen Augen ein Versagen unseres Versorgungssystems.
Volker Pietzsch: Wer jetzt den Armut und Gesundheit in Deutschland EV unterstützen möchte, welche Möglichkeiten gibt es?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, natürlich, das ist profan, wir brauchen immer wieder Geld, um all unsere Projekte zu finanzieren. Unser jüngstes Projekt ist ja eine Kooperation mit einer italienischen Organisation, mit Voluntarius. Seit einer Woche ist dort unser Ersatz-Arztmobil im Einsatz, weil es dort in Bozen in Südtirol unheimlich viele geflüchtete Menschen gibt. Über 350, 200 Männer leben auf der Straße und wir wollen damit auch ein praktisches aber auch ein politisches Statement abgeben. Was die Politik nicht schafft, wir versuchen es jetzt auf der Ebene der Zivilgesellschaften, der NGO’s. Wir kooperieren jetzt mit einer italienischen Hilfsorganisation. Sie sind uns sehr dankbar. Sie fanden das toll, dass aus Deutschland jemand kommt und ihre Arbeit vor Ort unterstützt. Da haben wir Schlafsäcke hingebracht, also so etwas. Gute Schlafsäcke können wir immer gebrauchen für hier in Deutschland und auch für Bozen oder sonst wo. Wir haben auch ein Projekt in Kenia, das wir unterstützen. Das sind Straßenkinder. Also, wir brauchen auch Geld. Das andere ist über das Thema einfach zu reden, ja, im Freundeskreis, vielleicht auch in der näheren Umgebung einfach mal zu schauen. Da kann jeder, da brauch er uns nicht dazu, zu schauen, gibt es eine alleinerziehende Mutter, eine alleinlebende, ältere Dame, kann man da vielleicht helfen beim Einkauf oder sonst wie. Also Nachbarschaft-.
Volker Pietzsch: Also einfach mehr Aufmerksamkeit.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, ja, genau. Und den Mut auch anzusprechen, die Hilfe anzubieten in dem Stadtteil in dem man lebt, einfach da mehr Nachbarschaftshilfe zu betreiben. Man kann auch bei uns natürlich zum Teil mitarbeiten. Das ist immer ein bisschen schwierig, wenn man Arzt ist, Krankenschwester, Arzthelferin, dann ist das ein bisschen einfacher, sich in unseren Projekten zu engagieren. Aber wir brauchen auch immer wieder einen Pool von Menschen, die uns einfach bei Aktionen unterstützen, ja, da muss aufgebaut, abgebaut werden. Ja, da kann man sich melden bei uns. Die Homepage ist ja einfach, www Armut minus Gesundheit punkt de. Da finden Sie alles zu unserem Verein, auch unser Spendenkonto.
Volker Pietzsch: Das heißt, jetzt gerade in der kalten Jahreszeit, gilt es auch, wenn man einen Obdachlosen irgendwo sieht und es ist definitiv zu kalt, auch mal zu schauen, ist das richtig so oder rufe ich einfach mal Hilfe.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, also, einmal werde ich immer wieder gefragt, ist es richtig, Geld zu geben. Ich sage dann immer, als erstes würde ich ihnen empfehlen, geben sie dem Menschen das teuerste und das wertvollste, was sie haben, Zeit. Bleiben Sie einfach mal fünf Minuten stehen und unterhalten sich mit dem Betroffenen. Die persönliche Begegnung ist das wichtigste. Dann können Sie ruhig auch Geld geben und nicht wieder im Hinterkopf haben, och der Herr vertrinkt das vielleicht oder macht das. Das ist seine Entscheidung. Wenn Sie das Gefühl haben, er braucht Hilfe, dann kann man uns, das wird auch immer wieder gemacht, kann man uns anrufen. Wobei wir keinen Sofortservice haben, wir können nicht sofort dorthin fahren, wir müssen schauen. Wenn man wirklich das Gefühl hat, es ist jetzt zu kalt, dann muss man einfach den Rettungsdienst informieren, ja. Dann ruft man einfach die 112 an, und dann kommt ein Krankenwagen und dann wird derjenige mit in die Notaufnahme genommen und dann kann man schauen, was mit dem Menschen ist. Denn in der kalten Jahreszeit ist es halt einfach so, dass viele halt trinken, Alkohol trinken als Wärmespender, aber der Alkohol ist gefährlich, was Erfrierungen angeht. Weil es zu einer Zentralisation kommt des Herz-Blut-Kreislaufsystems. Das heißt, ist die Gefahr, dass Finger, Fußzehen, dass die minder durchblutet sind, ist größer und damit ist die Gefahr von Erfrierungen größer. Also, eher mal einmal zu viel angerufen, als einmal zu wenig.
Volker Pietzsch: Wollte ich gerade so sagen, also lieber ein Anruf zu viel und dafür auch ein gutes Gewissen, dass man nicht einen Mitmenschen hat einfach liegenlassen.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, und viele werden merken, wenn sie damit nach Hause gehen, und haben nichts gemacht, wie lange das mit ihnen arbeitet. Hätte ich, hätte ich doch, hätte ich nicht, hätte ich und-.
Volker Pietzsch: Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben. Gab es vor kurzem einen Fall, wo ein, ein Rentner vor einem Bankautomaten zusammengebrochen ist und fünf oder sechs Menschen sind drübergestiegen, weil sie dachten, es wäre ein Trick oder sowas. Aber selbst, wenn ich meine, es wäre ein Trick, dann rufe ich einfach die Polizei an und lasse sie gucken, aber-.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, Machen Sie das und auch, wenn man sich unsicher ist, würde ich dann schon sagen, dann gehen sie zu zweit. (I: Ich wollte gerade sagen-.) Sprechen Sie jemand noch an.
Volker Pietzsch: Hole mir Hilfe draußen und gehe dann nochmal rein.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Genau, und gehen hin und sprechen auch mal an und berühren vielleicht vorsichtig, ja, Hallo, und versuchen Kontakt aufzunehmen. Also, haben Sie da nicht so Berührungsängste, machen Sie etwas. Es gibt nichts Schlimmeres als nichts zu machen, ja. Auch in der ersten Hilfe, ja, wenn irgendwo jemand liegt, machen Sie etwas, handeln Sie. Das Schlimmste ist, nur rumzustehen, mit dem Handy zu spielen, vielleicht eine Aufnahme zu machen, das ist eine Katastrophe, ja. Kümmern Sie sich um die Menschen, ja.
Volker Pietzsch: Wer immer uns regieren wird, in diesem Land, wenn Sie einen Punkt in den nächsten Koalitionsvertrag reinschreiben dürften, was würden Sie reinschreiben?
Prof. Dr Gerhard Trabert: Oh, ein Punkt, das, das ist schwierig. Also, natürlich ist für mich was Zentrales, die Menschen, die von Hartz-Vier leben müssen. Die brauchen mehr Geld, um wirklich gesellschaftlich teilhaben zu können und sich wirklich gesund ernähren zu können und Gesundheitsprävention in Anspruch nehmen zu können. Und unser Gesundheitssystem muss gerechter werden. Keine Dreiklassen, Zweiklassen Medizin. Das heißt, auch da keine Eigenbeteiligungen für Menschen mit niedrigem Einkommen, beziehungsweise für Menschen, die soziale Transferleistungen bekommen. Keine Rezeptgebühren, keine Zuzahlung, das muss, da müssen die Menschen von befreit sein.
Volker Pietzsch: Dann wollen wir hoffen, dass das Gehör findet und vielleicht sich irgendwie wiederfindet. Danke für Ihre Arbeit, Danke für Ihre Zeit.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Gerne, ich danke Ihnen, dass Sie darüber berichten. Das ist schön.
Professor Doktor Gerhard Trabert hier bei Interviewradio.